Donnerstag, 22. Januar 2015

Das Leben und Sterben von Timmi Triefauge

Timmi fand sich im letzten Sommer zu regelmäßigen Besuchen dort ein, wo sich letzten Endes alle Katzen hier einfinden: bei unserer Gartennachbarin. Es ist, als würden die Mühseligen und Beladenen spüren, daß Erdmute Hilfe, Schutz, Futter und Liebe bereithält. In ihrer Stimmlage, wenn sie mit Katzen spricht, würde man sich selbst auch gern wärmen, wenn einen etwas niederdrückt.

Eines Tages kam also Timmi den Gartenweg entlanggehumpelt und sah aus wie ein 95jähriger am Rollator. Ein 95jähriger auf der Flucht aus den schlimmsten Verhältnissen. Der Kater konnte durch seine triefenden Augen kaum noch sehen, war abgemagert und dehydriert, sein Fell fettig, Pfoten und Ohren verschorft und wund. Miauen ging nicht mehr; wenn Timmi den Mund öffnete, war es ein lautloser Ton. Timmi bekam Fressen und Trinken und die Augen notdürftig ausgewischt - jede Katze läßt sich von einem Menschen berühren, der ihr Gutes will.

Erdmute fackelt nicht lange, wenn Tiere in Not sind; sie liest jeden Freitag in der Zeitung nach, wer am Wochenende tierärztlichen Notdienst schiebt. Also sah Timmi - wohl zum ersten Mal in seinem damals 17jährigen Leben - einen Tierarzt, am Sonntagnachmittag. Während Timmi noch am Tropf hing, traf der Besitzer ein, den Erdmute angerufen und herbeizitiert hatte. Der Kater war kein Streuner, sondern Besitz eines Mannes, vor dem auch die eigene Ehefrau Angst hat. Der Besitzer kam zum Tierarzt, zahlte die nicht kleine Rechnung und sagte - nichts. Er sagte nichts und nahm den leidlich wiederhergestellten Kater mit. Am nächsten Tag war Timmi wieder da - bei Erdmute.

Seit dieser Zeit erhielt er, was er benötigte; und als der Winter kam, hatte er auch eine warme Schlafhöhle auf Erdmutes Terrasse - falls er einmal nicht nach Hause wollte. Wir selbst sahen Timmi nun ebenfalls regelmäßig - meist auf dem Gartenweg an seinem Rollator, zu Erdmutes Garten strebend. Er legte immer wieder Pausen ein, um Kraft zu schöpfen, und ließ sich dann, wenn er unsere Ansprache hörte, auch über die Stirn streicheln. Nur, um einen Moment später weiter auf seinen Fluchtpunkt hinzuwanken.

Im Frühsommer diesen Jahres kam Timmi an einem warmen Abend durch die Hecke zu uns auf die Terrasse. Er erklomm mühevoll zwei von drei Stufen und hockte dann gekrümmt, aber zufrieden zwischen mir und dem Freund, die wir dort saßen und unser Bier tranken... Gestern abend kam er wieder zu uns: Die Tür unseres Gartenhäuschens stand offen, wir saßen auf den Stufen, in unserem Rücken bollerte der Kaminofen und begann, Wärme abzugeben. Timmi stieg die Stufen hoch und wollte rein. Er sah elend aus, noch elender als sonst. Wir wollten ihn nicht im Haus haben über Nacht, und dafür gibt es viele Gründe. Also hinderten wir ihn freundlich, streichelten sein fettiges Fell, sprachen mit ihm und er antwortete mit seinem lautlosen Miauen. Dann schnurrte er. Sehr leise, aber er schnurrte. Und kam doch nicht ins Haus.

Heute morgen, als Erdmute und ihr Mann in ihren Garten kamen, begrüßten wir uns, und ich erzählte von unserer Begegnung mit Timmi. Timmi Triefauge, wie wir ihn nennen. Ich reichte der Nachbarin zwanzig Euro über den Zaun: Dies wäre unser Anteil an der Spritze, die Timmi bald bekommen sollte. Ich wußte, daß Erdmute schon im letzten Herbst darüber nachgedacht hatte, Timmi einen weiteren harten Winter zu ersparen - denn ganz offenbar war sein Besitzer nicht gewillt, seinem Besitz auch nur den grundlegendsten Schutz und Nahrung zukommen zu lassen. Timmi hatte es geschafft, er hatte den letzten Winter überstanden und noch einen weiteren Sommer in Erdmutes Sonne verbracht; aber nun, mit den beginnenden kalten Nächten, war für uns alle nichts deutlicher, als daß dieses Tier zu erlösen sei.

Über dieses Thema hatte unsere Gartennachbarin schon im letzten Winter mit Timmis Besitzer gesprochen. Angeboten, die Kosten für die tödliche Spritze selbst zu bezahlen. Er entscheide über seinen Besitz, sagte der Besitzer. Mehr sagte er nicht. Seine Frau, darauf angesprochen, sagte: Ich habe Angst vor ihm. 

Erdmute gab mir die zwanzig Euro über den Gartenzaun zurück: Fährst Du mit mir zum Tierarzt mit Timmi? Ich nahm das Geld zurück und sagte ja. Wenn er auftaucht heute, dann nehmen wir ihn und fahren zum Tierarzt, fragte Erdmute noch einmal. Ich sagte noch einmal ja. Wenige Stunden später tauchte Timmi auf, er bekam etwas zu Fressen, wurde gebürstet, in einen Transportkorb verfrachtet, ich holte unser Auto und fuhr zum Tierarzt.

Dort erzählten wir an der Anmeldung die Legende vom Streuner "Paulchen", der in Übereinkunft mit dem Tierschutzverein jetzt bitte erlöst werden möge. Das war, was den Tierschutz betrifft, nicht gelogen. Als der Arzt Timmi sah, war ihm sein Entsetzen deutlich anzusehen. Und es gab nicht einen Moment des Zögerns, ob das, wonach wir fragten, angemessen sei.

Timmi schien die ganze Zeit völlig entspannt zu sein, noch nicht einmal sein lautloses Miauen hatten wir gesehen. In dem Moment jedoch, als der Arzt ihn im Nacken griff und ihm die Spritze setzen wollte, fauchte er - das erste Mal hörten wir ihn fauchen - und strampelte, kratzte und versuchte zu beißen. Erdmute sprach mit der wärmsten Sonne ihrer Stimme auf ihn ein, hielt ihn mit fest, und der Arzt setzte einen Teil des Medikamentes in Timmis Seite. Der Kater beruhigte sich und blieb nun liegen. Der Arzt kämpfte mit den Tränen: Jetzt wehrt er sich noch einmal - woher er diese Kraft nimmt?

Dann rasierte er Timmi ein Stück Fell am Hinterlauf, streichelte ihn, setzte die Spritze in die Vene und sagte: Erschrecken Sie nicht, es wird jetzt sehr schnell gehen. Ich streichelte Timmis fettige Stirn, während das Tier noch kurz einmal aufzuckte, die Zunge herausstreckte und ganz ruhig wurde.

Timmi Triefauge, Besitz eines Mannes, dem ich besser niemals begegne, hat sich dem Tod nicht kampflos ergeben und ihm am Ende die Zunge gezeigt. Und wer mich oder Erdmute jetzt verklagen will, wird den Rechtsanwälten der Hölle begegnen.

















(Dieses Foto von Timmi kurz vor seinem Tod und mein Text dazu stammen vom 11. September 2014. Ich hatte mit Erdmute - deren Namen ich geändert habe - Stillschweigen vereinbart; sie hatte Angst, daß Timmis Besitzer sie vielleicht ansprechen würde, wo sein Besitz geblieben sei. Der Mann hat seitdem nie nach seinem Kater gefragt.)

Sonntag, 4. Januar 2015

im sommer vor mehr als 50 jahren

im januar vor zwei jahren habe ich hier schon einmal alte fotos aus unserem garten gezeigt; jetzt sind neue alte fotos aufgetaucht:

da sitzt sie, meine oma hildegard, auf der terrasse vor dem haus, in der hand eine bratwurst im brötchen und im feinsten staat; und sie scheint sich zwischen den sehr leicht bekleideten jungs sichtlich wohl zu fühlen. so, wie sie aussieht, war sie wohl gekommen, um nach dem rechten zu sehen - und ist dann wohl hoffentlich wieder gegangen. rechts neben ihr lachend mein vater. er schätzt, die fotos stammen von 1960. da war meine oma 48 und mein vater 18 jahre alt - würde passen.
und hier die jungs am rost! mein vater rechts mit der bierflasche in der hand, isjaklar. diejenigen, die sich an den jungs sattgesehen haben, fordere ich auf, die damals schon ca. 30 jahre alten pfingstrosen zu bewundern, die sich links und rechts neben den männerbeinen befinden. die sind heute noch genau dort und blühen jedes jahr reichlich.